top of page

AUFBRUCH

  • blummeret
  • 8. Apr. 2021
  • 4 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 26. Apr. 2021

Eine Kurzgeschichte von:

Lilian Naef, Schauspielerin und Regisseurin


Seit Jahr und Tag hing der kleine Schlüssel in Hannahs Küche an einem Balken. Wenn sie morgens ihren Milchkaffee schlürfte, blieb ihr Blick an ihm hängen. Bei schönem Wetter fielen die ersten Sonnenstrahlen exakt in diesen Winkel der Küche. Sie hüllten das Schlüsselchen in Glanz und betonten seine Nutzlosigkeit. Hannah runzelte zwischen zwei Schlucken ihre Stirn und versuchte sich zu erinnern, wozu es einmal gedient haben könnte. Tief in ihrem Innern wusste sie, dass es sich lohnte, ihm diese Aufmerksamkeit zu schenken, denn manchmal stieg bei solch morgendlichen Meditationen eine diffuse Ahnung in ihr hoch. Diese endete aber immer im Dunkel und liessen Hannah unerlöst und leicht verärgert zurück. Wurde sie alt? War dieser Gedächtnisverlust ein erstes Zeichen ihres geistigen Verfalls? Dieser Gedanke beunruhigte sie. Mehr noch: das Schlüsselchen wurde für sie zum Beweis ihrer Verletzlichkeit. Wie ein Ausrufezeichen hing es über der Tür. Wie lange würde sie hier oben noch alleine leben können? Ihre Hütte war alt, der tragende Balken neben der Eingangstür längst morsch, seit einiger Zeit schon standen dringende Renovationsarbeiten an. Sie schob sie immer wieder hinaus. Nach dem letzten Versuch das Dach zu flicken, schmerzten ihre Gelenke tagelang. Beinahe wäre sie auf dem halbnassen Wellblech ausgerutscht. Ihre Kräfte liessen nach, das spürte sie deutlich.

Das Hüttchen lag in einer Talsenke zwischen zwei Bergspitzen unbarmherzig Wind und Wetter ausgesetzt. Der Zahn der Zeit nagte an ihm. Bereits in jungen Jahren hatte Hannah sich entschieden, hier oben zu leben, alleine. Es schien ihr damals die einzige Möglichkeit Frieden zu finden und abzuschliessen mit alten Geschichten. Unten im Dorf hatte sie sich nicht beliebt gemacht. Die Leute störten sich an ihrem aufmüpfigen Wesen. Sie galt als unangepasst, hatte sogar den Pfarrer beleidigt, indem sie ihn auf ein paar Widersprüche in der Ausführung seines Amtes hinwies und auch den Sinn der Beichte hinterfragte. Solches Verhalten kam in einer kleinen Berggemeinde einem Verrat an der Gemeinschaft gleich.


Natürlich hatte sie den widerständigen Schlüssel immer wieder versucht, seiner ursprünglichen Bestimmung zu zuführen, hatte Kommoden und Schränke, Tischschubladen und die abschliessbare Schublade einer kleinen Vogeltränke im Garten mit ihm bekannt gemacht. Sogar mit Gewalt wollte sie ihn gefügig machen. In einem trotzigen Versuch mit Hammer und Zange hatte sie ihm einmal den Bart frisiert. Vergeblich, der Schlüssel liess sich nicht verbiegen. Resigniert hing sie ihn zurück seinen alten Platz über der Tür.


Als ihr Blick auch an diesem Morgen auf ihm ruhte, bemerkte sie plötzlich, wie er sich in unregelmässigen Abständen ganz fein, fast unmerklich bewegte. Täuschte sie sich oder war sie von Geistern umgeben? Sie hörte auf zu kauen, legte die übriggebliebene Hälfte des Butterbrotes zurück auf den Teller und erhob sich, um nach ihrer Brille zu suchen. Selten brauchte sie dieses Hilfsmittel. Zeitungen und Bücher hatten sie früher interessiert aber die vielen Jahre fernab der Zivilisation hatten ihre Prioritäten verschoben. Meist zog sie es vor, in untätigen Momenten Wind, Wetter und den Geräuschen der Natur zu lauschen. Sie sass dabei auf einem selbst gezimmerten Bänkchen an der windgeschützten Seite der Hütte. Es dauerte einen Moment, bis sie die Sehhilfe gefunden und aufgesetzt hatte. Nun aber trat sie näher heran an den Querbalken über der Tür und inspizierte den Schlüssel aus nächster Nähe. Der Nagel, an dem er an einem zehn Zentimeter langen Faden hing war rostig. Von ihm ausgehend spannten sich in perfekter Harmonie und Regelmässigkeit Fäden über den Winkel des Türrahmens bis zum Längsbalken neben dem Herd. Die Nabe dieses kunstvollen Gebildes befand sich direkt über dem Loch des Schlüsselknaufs. Die Spinne hatte den Schlüssel perfekt in ihre Konstruktion integriert. Sie war im Begriff die Arbeit zu vollenden und sich häuslich einzurichten. Eben hatte ihr geschäftiges Treiben den Schlüssel erneut in Bewegung versetzt. Fasziniert betrachtete Hannah die flinken Beine und den prallen, runden Rumpf des kleinen Wesens. Sie wagte kaum zu atmen. Auf Augenhöhe mit dem Tier versank sie hinein in dessen Welt. Sie erkannte die Fülle an Möglichkeiten, die der lange, noch ungenutzte Schlüsselhals in Bezug auf eine Erweiterung der Netzkonstruktion bot. Sie plante in Einklang mit dem winzigen Wesen ein schwindelerregendes Gebilde und als sie nach einer Weile – war sie in ein Zeitloch gefallen ? - wieder aus ihrem Tagtraum erwachte, fühlte sie sich seltsam erfrischt, belebt, auf seltene Art befreit. Etwas war in Bewegung geraten. Sie trat heraus vor die Hütte wusch sich Gesicht und Hände im Brunnen, juchzte unvermittelt in die kalte Morgenluft hinaus und beschloss ins Tal zu fahren, um Holz für den Winter zu kaufen. Bei dieser Gelegenheit wollte sie auch mit Marcel sprechen. Zwischen ihnen war in jungen Jahren viel Geheimnis. Er hatte auch in der Krise zu ihr gestanden und sie vor den Lästermäulern aus dem Dorf beschützt. Vor kurzem war seine Mutter gestorben, das wusste sie von Gaudenz dem Postboten, der einmal im Monat bei ihr vorbeikam. Marcel hatte seine Mutter gepflegt. Und er war es auch, der über die Jahre ab und zu versucht hatte, sie aus ihrer trotzigen Isolation zu locken. Sie wusste längst, dass er recht hatte: sie hatte sich verrannt. «Die Zeiten haben sich geändert,» sagte er zu ihr, als sie im vorigen Sommer ein Maikätzchen im Dorf holte, um etwas Gesellschaft zu haben. «Gib nach!» Aber ihr Stolz liess damals nicht zu, was längst fällig war.


Jetzt sah sie ihn plötzlich, den Lichtstreifen am Horizont, das kleine Stückchen Himmel nach einem langen, dunklen Gewitterregen. Sie zog sich ihre Wollmütze über den Kopf, schnürte die groben Bergschuhe, packte ein Znüni in den Rucksack und machte sich auf den Weg hinunter ins Tal.




 
 
 

Comments


bottom of page