DIE ANONYMEN SCHLOSSLOSEN SCHLÜSSEL
- blummeret
- 2. Mai 2021
- 3 Min. Lesezeit
Eine Kurzgeschichte von:
Charles Lewinsky, Schweizer Schriftsteller und Drehbuchautor
Du musst dich nicht verstecken. Ich will dir nichts Böses. Ich verrate dich auch nicht.
Das habe ich am Anfang auch immer gesagt. «Lasst mich alle in Ruhe!» Aber das ist keine Lösung. Glaub mir: Einsamkeit ist keine Lösung.
Das habe ich am Anfang auch gedacht. «Niemand kann verstehen, wie schlecht es mir geht.» Aber du bist nicht der einzige mit diesem Schicksal. Willst du mir nicht erzählen, wie es passiert ist?
Du musst nicht. Du musst überhaupt nichts. Wenn du willst, kannst du auch einfach daliegen und verrosten.
Rostfrei? Das haben schon viele gemeint. Aber nach ein paar Jahren im Dreck erwischt es jeden. Auch Safeschlüssel wie dich. Obwohl die sich alle für etwas Besseres halten.
Entschuldige. Das hätte ich nicht sagen sollen. Das ist die erste Regel bei uns: Zuhören und nicht kritisieren. Wenn du mir also erzählen willst…
Du willst nicht mit mir reden? Willst kein Wort sagen? Das ist dein gutes Recht. Niemand zwingt dich zu etwas. Aber ich habe gerade Lust, ein bisschen vor mich hinzuschwatzen. Auch wenn du mir nicht zuhörst. Du kannst das halten, wie du willst.
Ich bin nichts Vornehmes. Nicht wie du. Ein ganz gewöhnlicher Schubladenschlüssel. Die Schublade gehörte zu einem Schreibtisch, der war auch nichts Besonderes. Hatte keine verschnörkelten Beine oder sonst etwas Besonderes. Man konnte darauf schreiben, und in der Schublade konnte man etwas aufbewahren. Das war alles.
In der Schublade lagen keine wertvollen Dinge. Nur solche, für die es in einer Wohnung keinen richtigen Platz gibt. Die man eigentlich wegschmeissen wollte und dann doch nicht weggeschmissen hat. Plunder.
Wir haben einer alten Frau gehört, der Schreibtisch und die Schublade und ich. Ich weiss nicht, wie alt Menschen werden, aber ich glaube, sie war schon sehr alt. Wenn sie mich im Schloss umdrehen wollte, hat ihre Hand gezittert. Ich weiss nicht, warum sie die Schublade immer abgeschlossen hat. Was darin lag, hätte niemand gestohlen. Außerdem lebte sie allein.
Irgendwann lebte sie dann nicht mehr.
Es sind Männer gekommen, die haben uns alle abgeholt. Die meisten Möbel habe ich an jenem Tag zum ersten Mal gesehen. Als Schubladenschlüssel kommt man nicht in der Welt herum. Eine Vitrine war dabei, die war wunderschön. Drei Glastüren und jede hatte ihr eigenes kleines Schlüsselchen.
Irgendwann kam dann auch mein Schreibtisch dran. Einer der Männer hat mich umgedreht und in die Schublade geschaut. Ich habe nicht verstanden, was er gesagt hat, aber es klang enttäuscht.
Als sie den Schreibtisch hinausgetragen haben, bin ich aus dem Schloss gerutscht und auf den Boden gefallen. Es hat sich keiner nach mir gebückt.
Ja, und seither lebe ich allein. Ohne mein Schloss.
Am Anfang war ich so verzweifelt wie du. Aber dann hat mir ein anderer Schlüssel wieder Mut gemacht. So wie ich es mit dir machen möchte. Ein ganz kleines Briefkastenschlüsselchen, das keinen Briefkasten mehr hatte. Er hat mir von diesem Treffen erzählt. Einmal in der Woche. Um Mitternacht.
Lauter einsame Schlüssel. Wir nennen uns «Die vertriebenen Prinzen», weil wir alle unser Schloss verloren haben. Man muss den Humor bewahren, das ist das Wichtigste.
Wir treffen uns und erzählen uns unsere Geschichten. Es muss aber niemand etwas sagen, wenn er nicht will. Man kann auch einfach schweigen. Am Anfang schweigen fast alle.
Willst du nicht auch einmal dazukommen? Morgen treffen wir uns wieder. Ich würde dich hier abholen, wenn es dir recht ist.
Du musst nicht. Überhaupt nicht. Aber glaub mir, es tut gut zu hören, dass man nicht allein ist. Dass andere dasselbe Schicksal haben.
Du kannst kommen oder nicht. Du bist völlig frei. Du wirst schon noch lernen, wie frei man ist, wenn man kein Schloss mehr hat.
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