GEDANKEN ZU EINEM SCHRANKSCHLÜSSEL
- blummeret
- 23. Aug. 2021
- 3 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 27. Aug. 2021
Gedanken von:
Eva Batz, Deutschkursleiterin

Ein Schlüssel kam zu mir. Er sieht aus wie der Schlüssel zum Kleiderschrank meiner Tochter. Ob er wohl auch dort passt? Der Schrank war auch mein Schrank gewesen – er begleitete mehrere meiner Stationen als Kind, als Jugendliche, als Studentin und junge Erwachsene. Recht stilvoll und zeitlos in einem hellen Taubengrau gestrichen. Für meine Tochter hat er sich vor vielen Jahren in gelb-orange gekleidet und wurde wieder zum Kinderzimmermöbel. Kinderzimmer – naja. Das Kind ist jetzt 14 und ihr Zimmer ist ihr Zimmer. Darum steht auch die Schranktür so gut wie immer offen. Zumachen ist nicht der Mühe wert. Ausserdem kreischt die Tür schmerzhaft in Angeln und Ohren.
Mich lockt, dem Schlüssel eine Geschichte über eine Teenagerin anzudichten…
Ha ha ha! «sluzzelîn, drinne sin!». Mama mit ihrem nervigen Deutsch-Gedicht wieder. Hej, der Schlüssel um ihren Hals war einfach ihr eigener Stil. Er war schön old school, individuell, persönlich. Und er hatte schon gar nichts mit Liebe zu tun. Grade kürzlich hatte sie doch klargestellt: «Ich bin gar nie richtig verliebt gewesen. Ich glaube, ich habe mir das nur eingebildet.» Und jetzt dieser blöde Spruch: «Na, Schätzeli, ist das der Schlüssel zu deinem Herzen?»
Nein, das war der Schlüssel zu ihrem Schrank. Zu ihrem ganz alleinigen Reich. Zu ihrem eigentlichen «Ich». Ihrem Eigentl-Ich. Okay, in diesem Sinn irgendwie ja schon zu ihrem Herzen. Aber halt nicht dermassen krank:
Dû bist mîn, ich bin dîn.
des solt dû gewis sîn.
dû bist beslozzen in mînem herzen…
Warum sollte man die Person, die man liebte, einsperren? Welcher Psychopath machte denn sowas? Aber sich selbst ein bisschen verkriechen, bisschen einschliessen, einigeln, abtauchen, zu sich kommen: Hi hi hi! Hoi Mirjam, bisch deheime? Ich chumme jetz im Fall zu mier. Klopf, klopf, klopf! So, Türe zu, finster war’s, der Mond schien helle… Na ja, halt die profane Taschenlampe. Aber gemütlich war’s schon zwischen den Socken und Leggins. Raus aus der Realität, rein in die Welt von Kane, Superkräfte und Spannung, rein ins Literaleben…..
Ein paar heisse, rote Backen später. Ob sie auch zu so was fähig wäre? Ob sie auch mal über sich hinauswachsen würde. In ihrem Leben passierte einfach nie was! Wo war es denn, das eigentl-iche Leben? Am liebsten würde sie mal abhauen und sich herausfordern. Halt erlaubt natürlich. Abgesprochen mit Mama und Papa. Erlaubt ausbüxen. Total beschränkt!
Aber wer wäre ich dann? Eine Mama-Erzählerin, die die Geschichte steuert in ihrem Sinn, die ihre Tochter als Mirjam verkleidet und ein Happy Ending hinbescheisst, wo das Kind den Schlüsssel zum Schrank wegschmeisst und den Weg nach draussen geht. In den Wald, bei einem echten Abenteuer zu sich selbst findet, zu Freunden. Nein - dass ich die Geschichte meiner Tochter erdichte, das geht überhaupt nicht mehr. Das sehe ich ein.
Meine Tochter kommt nachhause. Sie hat mit ihrer besten Freundin auf einer Wiese am Waldrand übernachtet. Vorher wollten wir den Platz sehen. Nachher wollten wir gern wissen, wie es war. Das war zu viel gewollt. Meine Tochter hat mich in ihrer Zeltnacht ausgesperrt. Sie hat freiwillig abends um halb zehn ihr Handy ausgeschaltet, um ihre Ruhe zu haben. Die Eltern der Freundin sind viel aufgeschlossener, sie trauen ihren Kindern mehr zu, lassen sie mehr selbst bestimmen. Mir tut das weh, vor allem der Vergleich. Mir kommen ein paar gemeine Gedanken zur Rechtfertigung. Diese Eltern sind selbst gerade in einem heftigen Selbstfindungsabenteuer. Beide. Separat. Fünfzigjährige Teenager. Dazu nehmen sie die ganze Familie mit. Ist es Sicherheit, was Kinder brauchen, oder Verunsicherung? Nur: Negative Gedanken nützen mir nichts. Jetzt vergleiche ich schon selbst. Oh, das nagt. Wer braucht hier Sicherheit? (Fast) schaffe ich es, mich nicht direkt in ein Streitgespräch zu stürzen und mich zu verteidigen. Muss ich das eigentl-ich? Ist die Sorge nicht zu einem gewissen Teil mein Recht? So ticke halt ich. Schliesslich hatten wir doch «ja» gesagt.
Ich lege den Schlüssel auf eine innere Waage: Wie oft sperrt er in seinem Leben zu? Wie oft auf? Ich lasse die Empfindungen meiner Tochter in mir sinken. Es geht nicht darum, eine Geschichte über meine Tochter zu formen, sondern darum, selber offen zu bleiben, formbar.
Dû bist mîn, ich bin dîn. des solt dû gewis sîn. dû bist beslozzen in mînem herzen, verlorn ist das sluzzelîn: dû muost ouch immêr darinne sîn.
Ein Schrankschlüssel ist kein Schrankenschlüssel. Auf keinen Fall dürfen wir den Schlüssel verlieren, sonst kommt die Person darinne nie mehr heraus. Oder brauchen wir gar keinen Schlüssel? Übrigens passt er eh nicht zu unsrem Schrank….
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